Von der Hirnforschung wissen wir: Das Gehirn prägt sich Wissen einfacher durch zusammenhängende Geschichten als durch Daten und Fakten ein. Warum? Weil Fakten nur unser Sprachzentrum aktivieren, während Geschichten das ganze Hirn in Wallung bringen und Identifikation schaffen. So wird Wissen über Erzählungen nicht nur vermittelt, sondern erlebbar gemacht. Atmen wir den Duft einer Rose ein, wird derselbe sensorische Teil des Hirns (der sensorische Kortex) aktiviert, wie wenn uns jemand nur davon erzählt. Dasselbe Areal, das für Bewegung zuständig ist (der motorische Kortex), leuchtet im Scanner auf, egal ob wir selbst Fußball spielen oder als Zuschauer auf der Tribüne sitzen. Unsere Gehirne verschalten sich, unsere Körpersprachen werden synchron und spiegeln das Verhalten, die Bedürfnisse und Gefühle des Anderen. Lächelt sie, lächele ich; weint er, weine ich. Wir können die Emotion unseres Gegenübers verstehen und empfinden sie nach, ganz gleich ob diese gerade erlebt oder „nur“ erzählt wird.
Diese emotionale Ansteckung definiert Empathie. Sie ist biologisch bedingt und ein Grund dafür, dass sich immer wieder Menschen in Lebensgefahr bringen, um andere zu retten. Altruismus übertrifft eben doch Egoismus, wenn das Leid um sich schlägt. Im Dokumentarfilm Die Revolution der Selbstlosen (Bis Samstag 5.03. noch in der Arte Mediathek abrufbar!) gehen die Psychologen, Neurowissenschaftler und Primatenforscher sogar weiter. „Sei es in Yale, Harvard oder am Max-Planck-Institut“, so die Autoren Thierry Lestrade und Sylvie Gilman, „überall kommen namhafte Wissenschaftler zum gleichen Schluss: Die von den Verfechtern Darwins immer wieder gepredigte natürliche Selektion ist nicht die einzige Triebkraft der Evolution. Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung sind ebenso Teil des menschlichen Wesens, ohne sie hätte die Menschheit nicht überlebt. Der Altruismus ist genetisch verankert.“
Wenn Kooperation eines der Schlüsselworte unserer Entwicklung ist, ja dann fragt man sich, warum die Welt insgesamt nicht gütiger und gerechter ist? Alle zwei Jahre analysiert und vergleicht die Bertelsmann Stiftung mit dem Transformation Index (BTI) den Wandel von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft in 129 Ländern der Welt. Der jüngste Index von 2016 zeichnet kein rosiges Bild: Demnach nimmt die Intensität von sozialen, religiösen und ethnischen Konflikten in den letzten zehn Jahren weltweit zu, während sich Demokratie, soziale Marktwirtschaft und die Fähigkeit zum Dialog zurückentwickeln. Auch dafür liefert die Wissenschaft Erklärungsansätze: Noch stärker als der allgemeine empathische Reflex ist die Identifikation mit denen, die uns gleichen oder uns sympathisch sind. Family First! Dann die weiteren Kreise der Verwandten, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Vereinsleute, Landsleute u.s.w. Unser empathischer Spiegel ist eben nicht neutral. Unser Hirn leidet nicht unbedingt mit, wenn jemand „Böses“ sich verletzt, sondern empfindet eher Schadenfreude. Rache ist süß, heißt es doch so schön. „Die empathische Einfühlung motiviert uns nämlich dazu, eher den Menschen zu helfen, die uns ähneln, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Menschen, die anders sind als wir, die eine andere Hautfarbe haben oder aus einer anderen Kultur stammen, ignorieren wir eher. Das heißt: Empathie kann uns parteiisch, ja sogar fanatisch machen“, erklärt der Psychologe Paul Bloom an der Yale University (USA) im Interview mit der Zeit. Wo Sympathie und Nächstenliebe aufhören, und wo die Bestimmung von Andersheit beginnt, kann bekanntlich von Mensch zu Mensch sehr anders skaliert sein…
Das kann man steuern, erforscht auch Paul Bloom, und zwar mit dem Begriff von compassion, von Mitgefühl. Doch bevor wir dahin kommen, möchten wir noch von einer weiteren Schattenseite der Empathie sprechen, die uns im Prozess mit Storytelling besonders angeht. Der Satz „Ich fühle das, was ein anderer Mensch fühlt“ birgt die Gefahr von emotionaler Überlastung. Menschen, die im privaten und beruflichen Leben einen Dienst am Menschen tun oder mit besonders schwierigen Handlungen am Menschen konfrontiert sind, kennen das Problem. Pfleger*innen, Ärzte und Ärztinnen, Seelsorger*innen, Helfer*innen im Katastrophengebiet, Soldaten und Soldatinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Sozialhelfer*innen und viele mehr.
Interessanterweise bieten die sozialen Neurowissenschaften denselben Lösungsansatz für beide Probleme mit der Empathie. Also erstens dafür, dass Empathie und entsprechend Kooperationsbereitschaft durch unseren Herdentrieb beeinflusst wird; zweitens dafür, dass die empathische Identifikation mit dem Leid, Schmerz oder Stress von anderen, zum emotionalen Burnout führen kann. Was kann man also tun? Der Film Die Revolution der Selbstlosen stellt eindrucksvoll dar, zu welchen Ergebnissen die Forscher kommen: Dass die Stärkung von Mitgefühl und Achtsamkeit durch meditatives Training nicht nur Individuen, sondern ganze Systemeverändern kann.
Moment mal, ist Mitgefühl nicht dasselbe wie Empathie?! Nein, ganz und gar nicht erklären die Experten, darunter Paul Bloom, der US-amerikanische Hirnforscher Richard Davidson oder Tania Singer, Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, die auch eng mit dem Molekularbiologen und buddhistischen Mönch Matthieu Ricard zusammenarbeitet. Mitgefühl geht mit Achtsamkeit und selbstloser Anteilnahme einher. Der mitfühlende Mensch ist nicht mehr nur seiner Sippe am Nächsten, sondern weitet unbegrenzt seinen Horizont der Liebe und Kooperationsbereitschaft. Auch leidet er nicht mehr so arg mit. Als mitfühlender Mensch kannst Du Wärme ausstrahlen und nährst die Motivation zu helfen. Es ist im Prinzip das, was Ärzte oder Psychologen jeden Tag versuchen müssen, zu tun: sich mitfühlend auf den Patienten einzulassen, um zu helfen, ohne dabei von dessen Leid selbst überwältigt zu werden. Anders gesagt: Der mitfühlende Mensch kann sich der Gefühle und der Fremdheit anderer annehmen, ohne dass sein Gehirn die Gefühle spiegelt oder im negativen Sinne Schadenfreude zeigt. Mitgefühl ist – wen überrascht es noch? – im Gehirn sogar sichtbar und kann sich weiter entwickeln. Mentales Training stärkt also unsere Fähigkeit, unseren eigenen Stress abzubauen und uns selbstlos anderen zu öffnen.
Jeder kann es lernen und davon profitieren. Im Storytelling-Workshops können Meditationspausen den Erzählern und Begleitern helfen, einen Schritt zurückzutreten. Gute Geschichten brauchen eine gewisse Distanz zum akuten Gefühl, um an Tiefe und Schärfe zu gewinnen. Die Gruppe braucht das Gefühl von Vertrauen und Gemeinschaft, um sich zu öffnen, Teilnehmer und Begleiter brauchen ein Stück weit innere Ruhe, um den anderen als wohlwollende und aktive Zuhörer zu begegnen. Können Geschichten die Welt verändern? Zumindest tragen sie dazu bei, mitfühlende, glaubwürdige Persönlichkeiten zu zeigen, die dank der – durchaus auch guten und wichtigen! – Effekte von Empathie Nachahmer finden und Kettenreaktionen auslösen können.