Vor ein paar Wochen schreibt mich Jaume aus Katalonien auf LinkedIn an. Er wolle mich einladen, bei einer „bottom-up Initiative“ mitzumachen. Ich bin kurz davor die Nachricht wegzuklicken, doch fällt mir der Titel des Projekts ins Auge „One Day in 2050 – a window to the future“. Fenster – Zukunft – Ein Tag in… magische Schlüsselwörter, die mich sofort fangen. Ich soll der Welt eine Zukunfts-Geschichte in 300 Wörtern schenken. #OneDayin2050 – das sind 365 fiktive Zeitungsmeldungen aus dem Jahr 2050, eine für jeden Tag. Der Rahmen ist zugleich strikt vorgegeben und schlicht gehalten: Schreib eine Meldung im journalistischen Stil, ca 300 Wörter, aus der Zukunft heraus. Erfinde was du willst. Eine Nachricht pro Person, in der Welt verteilt. So lese ich z.B. die optimistische Meldung von Astrid Pascal vom 1. April aus dem (zukünftigen) Staat Nethersea, die von der Neuausrichtung der ehemaligen Niederlande nach der zerstörerischen Flut von 2049 erzählt, während Cherry Sung am 25. Mai von Seoul aus das dystopische Bild einer gescheiterten Wende entwirft. Die selbstorganisierte Struktur erlaubt es, innerhalb kürzester Zeit die Geschichten zu sammeln und zu veröffentlichen. Am 30. September wird die Sammlung abgeschlossen sein. Ich habe es als spannend empfunden, ohne irgendwelche thematischen Vorgaben ins kalte Wasser geworfen zu werden. Ein Stichwort aus meiner Gegenwart tauchte auf, dazu kam die Erinnerung an eine Unterhaltung über Städtepartnerschaften, die Idee von Städtewaben entsprang und spann sich weiter zu einem Ereignis…kreatives Schreiben erlebe ich immer wieder als eine Art assoziatives „Happening“. Hier geht’s zu meiner Geschichte: COURAGE OF LAST HOPE“ ON THE SIDELINES OF THE COP 55
Schaut man sich die bisher veröffentlichten Geschichten an, kommt man nicht umhin festzustellen, dass ein Großteil der „News“ von bestimmten Konsequenzen und Ereignissen rund um den Klimawandel erzählen. Das zeigt wie unmissverständlich präsent der Klimawandel in allen sozialen, ökologischen und ökonomischen Dimensionen ist, wenn man sich die Welt in 2050 vorstellt. Es ist vielleicht deshalb nicht verwunderlich, wenn sich seit den 1990er Jahren ein neuer Begriff entwickelt und etabliert hat: Climate Fiction oder kurz „cli fi“. Climate Fiction richtet den Blick auf die „Zukunft und das Überleben der Kollektive“, wie die Organisatoren des ersten deutschen Climate Fiction Festivals 2020 schreiben. Dabei setzen cli-fi Geschichten – seien es Romane, Filme, Graphic Novels und mehr – auf ihre Kraft, zu mobilisieren und konkreten Wandel mit zu bewirken.
Wer sich gern selbst in cli-fi ausprobieren und mitschreiben möchte, kann dies zum Beispiel im Projekt Stories from 2050 tun. Das von der EU geförderte Projekt setzte 2021 eine Reihe von Storytelling-Workshops um, in denen es seine Erzähler*innen das Leben auf 5 anderen Planeten mit je besonderen, elementaren Eigenschaften entwerfen und Geschichten zu unterschiedlichen Lebensbereichen erfinden ließ. Methodologisch orientierte es sich dabei an Prinzipien der sogenannten Futures Literacy, in denen die Vorstellung von wünschenswerten und alternativen Zukünften (im Plural) eine zentrale Rolle spielen, um über bestehende Denkmuster und Annahmen hinaus zu kommen. „Geschichten nehmen uns mit auf eine Reise jenseits unseres unmittelbaren Kontextes und Umfelds“. Die daraus entstandenen Geschichten sind im Stil der literarischen Fiktion geschrieben und können online als frei zugängliches Buch geblättert werden. Eine hervorragende Inspirationsquelle für kreative Visionsarbeit! Im Community Bereich kann jede*r nach wie vor nach Herzenslust eigene Geschichten beisteuern und so am Projekt mitmachen. Indem wir Geschichten schaffen und sammeln unterstützen wir – so die Annahme – die Weiterentwicklung der Vision eines sauberen Planeten 2050 und die Umsetzung des Europäischen Green Deal.
Ein sehr besonderes Projekt kann hier nicht unerwähnt bleiben: The Dark Mountain Project. „Im Jahr 2009 veröffentlichten zwei englische Schriftsteller ein Manifest. Aus diesem Manifest erwuchs eine kulturelle Bewegung: ein verwurzeltes und verzweigtes Netzwerk kreativer Aktivitäten, in dessen Zentrum die Zeitschrift Dark Mountain steht und das durch die Arbeit einer wachsenden Schar von Mitarbeitern und Mitwirkenden sowie durch die Unterstützung tausender Leser in aller Welt getragen wird.“ Das Projekt ist eine laufende Unterhaltung von radikalen, visionären Schriftstellern, Denkern, Künstlern. Es ist ein Manifest und ein Selbstverlag sowie ein Ort für Events und Begegnungen, das eine „unzivilisierte“ Kunst einfordert, um die unhaltbaren Narrative unserer Zeit umzuwerfen und Neues entstehen zu lassen.
Online findet ihr weitere inspirierende Sammlungen an Geschichten, wie zum Beispiel in der – frei zugänglichen – Ausgabe von September 2021 des amerikanischen Solutionlabs FIX, The Climate Fiction Issue. Darin sind als Ergebnis eines internationalen Wettbewerbs die 12 besten Kurzgeschichten von 12 diversen Autorinnen und Autoren aus aller Welt erschienen, unter dem Motto „Imagine 2200: Climate Fiction for Future Ancestors“. Darunter wurden auch Beiträge von Autoren indigener Abstammung gekürt. Dies ist ein erklärter Anspruch von Climate-Fiction, die besondere Rolle von indigenen Völkern im Kampf gegen den Klimawandel sichtbar zu machen, ihre traditionelle ökologische Expertise zu würdigen und ihre Stimme zu hören.
FIX ist Teil eines non-for-profit medienunternehmens, Grist, das Lösungsorientierte Geschichten über den Klimawandel und eine gerechte Zukunft schreibt. Damit sind wir bei einem nicht miner spannenden Thema angekommen: Wie können wir – nun abseits von Fiktion – die Kraft von Geschichten im hier und jetzt nutzen, um Handlungsoptionen und Selbstwirksamkeit für eine bessere Welt aufzuzeigen, politischen Wandeln anzustacheln und Menschen zu inspirieren, diesen Weg zu gehen? Kurz, welche neuen Narrative braucht es, um die Welt zu verändern? Dieser Frage gehen eine Fülle von Projekten und Initiativen nach – mehr dazu in einem nächsten Blogbeitrag. Stay tuned!
Weitere inspirierende Quellen für Climate Fiction:
– Burning Worlds: die monatliche Kolumne von Amy Brady in der Chicago Review of Books, in der sie ein Werk zum Thema Klimawandel vorstellt und die Autoren / Künstler interviewt.
–Von Afrofuturismus bis Ökotopia: Das Klima-Literatur-Glossar von Grist, um das Klima-Fiction-Genre zu finden, das euch inspiriert.